Artikel Der große dbate-Jahresrückblick 2017

Artikel Der große dbate-Jahresrückblick 2017

Schlimmer als das verhexte 2016 konnte 2017 ja nicht werden, oder? Damals beschäftigte uns der zunehmende Populismus in Europa, politische Unruhen in der Türkei, der globale Terrorismus, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsident und die Brexit-Entscheidung. Doch das Katastrophenjahr hinterließ so seine Spuren. Viele Ereignisse zeigten erst in diesem Jahr ihre Folgen. Wir haben euch die besten Videos des Jahres zusammengestellt – im großen dbate Jahresrückblick.

Januar: Trump wird Präsident

In diesem Jahr gab es einen Mann, der sicherlich für die meisten Schlagzeilen gesorgt hat. Donald Trump wurde am 20. Januar in das Amt des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gehoben. Was darauf folgte war ein Jahr voller Kritik und Spott – dank seiner fragwürdigen Aktionen, provokanten Äußerungen und nicht zuletzt seiner Liebe zu Twitter. Seine Ansage zum Amtsantritt lautete „America First“. Über die nächsten Wochen folgten darauf lustige bis satirische Anwärter aus der ganzen Welt. Den Start machte eine Late-Night-Sendung aus den Niederlanden, die sich in Trump-Manier als „Netherlands Second“ bewarb.

Februar: Dutertes Drogenkrieg

Über 7.000 Tote hat der brutale Anti-Drogenkrieg des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte bereits gefordert. Mit sogenannten extralegalen Morden versucht er, dem Drogenproblem auf den Philippinen Herr zu werden. Wer darunter leidet, sind vor allem die armen Menschen, berichten Journalisten und Bewohner des Landes. Unsere Web-Doku zeigt die dramatischen Lebensumstände der Filipinos unter Duterte.

März: Deutsch-türkische Beziehungen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan veranlasste dieses Jahr ein Referendum, nach dem in der Türkei ein Präsidialsystem möglich werden sollte. Im Vorfeld sollten dafür auch in Deutschland türkische Minister Wahlkampfveranstaltungen durchführen. Doch diese wurden teils untersagt – der Grund: Die Türkei würde keine demokratischen Werte mehr vertreten. Erdogan war empört und verglich diese Entscheidung mit „Nazi-Praktiken“. Wir hatten im März mit Menschen auf der Straße gesprochen, was sie von der Debatte halten.

April: „Fotzen-Arschloch“

Brexit, Trump, AfD, „Volksverräter“, Fake-News. Das Vertrauen in „die da oben“ schwand im letzten Jahr zunehmend. Politische Debatten wurden in sozialen Medien geführt – mal belebend, oft verletzend. Gerüchte und Verschwörungstheorien kamen so ungebremst in Umlauf. Die Dokumentation „Nervöse Republik“ bildete die Stimmung in der deutschen Bevölkerung ab. Als Teil der Doku, forderte der Autor des Films, Stephan Lamby, Politiker und Journalisten dazu auf, an sie adressierte Hass-Mails vorzulesen.

Mai: Macron, der Retter Europas?

Es war fast überall in Europa zu spüren: Das Erstarken der Rechtspopulisten. So kam es auch bei der Präsidentenwahl in Frankreich zu einem Tête-à-tête zwischen dem liberalen Emmanuel Macron und der rechts außen stehenden Marine Le Pen vom Front National. Sieger wurde Macron – ein Zeichen für Europa. Aber für wie lange? „Viele sagen, 2017 sei vielleicht nicht das Jahr des Front National, aber 2022 könnte ihr Jahr werden“, so die Journalistin Amandine Sanchez, die bei der Wahl und den anschließenden Protesten gegen Macron vor Ort war.

Juni: Alexander Gauland zu Deniz Yücel

Seit dem 27. Februar 2017 sitzt der WELT-Journalist Deniz Yücel in türkischer Untersuchungshaft – lange Zeit ohne zu wissen, was ihm vorgeworfen wird. Er solle Mitglied einer Terrororganisation sein, lautet später im Jahr die offizielle Anklage. In seiner Heimat Deutschland kam mit seiner Verhaftung eine riesige Solidaritätsbewegung ins Rollen. Unter #FreeDeniz wurde nicht nur die Freiheit des deutsch-türkischen Journalisten bei Demos, Autokorsos und mit zahlreichen Briefen gefordert. Auch die Freiheit aller in Folge des Putschversuchs in der Türkei willkürlich Inhaftierten. Im Juni trafen wir den AfD-Spitzenkandidaten Alexander Gauland und fragten ihn, ob auch er sich solidarisch zeigt.

Juli: Krawalle zum G20-Gipfel

Ein besonders einschneidendes Ereignis war der G20-Gipfel in Hamburg. Vom 6. bis 8. Juli kam es zu zahlreichen Demonstrationen und Ausschreitungen gegen das Treffen der 20 größten Industrie- und Schwellennationen in der deutschen Hansestadt. Im berühmt-berüchtigten Schanzenviertel eskalierten dann die Krawalle: Hunderte Menschen wurden verletzt und Sachschäden in Millionenhöhe sind entstanden. dbate war an allen Tagen des Gipfels live vor Ort und zeigte auch „am Tag danach“ die mutwillige Zerstörung im Hamburger Schanzenviertel.

August: Leben im „Nazidorf“ – ein Ehepaar leistet Widerstand

Die Diskussion über Rechtsextremismus fing schon nach der „Flüchtlingskrise“ an, als rassistisch motivierte Gewalttaten gegen Migranten und Unterstützern der Integration zunahmen. Schon seit Jahren wehren sich Birgit und Horst Lohmeyer gegen ihre Nachbarn: Sie leben im „Nazidorf“ Jamel (Mecklenburg-Vorpommern) – außer ihnen wohnen hier ausschließlich Neonazis. Im Interview spricht das Ehepaar über die Schwierigkeiten, die sie dadurch erfahren. Sogar Brandstiftung haben sie schon miterlebt. Mit ihrem eigens initiierten Musik-Festival „Jamel rockt den Förster“ setzen sie jährlich ein lautes Zeichen gegen Rechts.

September: Wer gewinnt die Bundestagswahl 2017?

In Deutschland bildete die diesjährige Bundestagswahl den politischen Höhepunkt – monatelang arbeiteten die Parteien auf diesen Moment hin, unter anderem mit aufwendigen Werbespots. Mit 32,9 Prozent holte die CDU/CSU mit Angela Merkel als Kanzlerkandidatin in vierter Folge die meisten Stimmen. Doch nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen steht bis zum Ende des Jahres noch immer keine Bundesregierung fest. Auch der Einzug der AfD in den Bundestag sorgte für Diskussionen. Zwei politische Punkte, die uns auch im Jahr 2018 sicherlich noch beschäftigen werden.

Oktober: Krise in Katalonien

Spanien und die autonome Gemeinschaft Katalonien haben ein sehr aufwühlendes Jahr hinter sich. Die katalanische Regierung rief dieses Jahr ein Unabhängigkeitsreferendum aus und forderte die Bürger auf, für oder gegen die Abspaltung von Spanien zu stimmen. Letzten Endes wurde die Unabhängigkeit Kataloniens von der spanischen Regierung für rechtswidrig erklärt. Kurz vor den umstrittenen und teils gewalttätig verlaufenden Wahlen haben wir mit einem in Katalonien lebenden Deutschen über die Stimmung im Land gesprochen.

November: Holocaust-Mahnmal vor Höckes Tür

Kaum eine andere Partei in Deutschland ist inzwischen so umstritten wie die Alternative für Deutschland. Ein Vorfall kurz vor Jahresende bekam von beiden Seiten herbe Kritik: AfD-Politiker Björn Höcke sagte Anfang des Jahres das Holocaust-Mahnmal in Berlin sei ein „Denkmal der Schande“. Die Aktionskünstler vom Zentrum für politische Schönheit errichteten deshalb einen Nachbau des Berliner Holocaust-Mahnmals direkt neben dem Privathaus von Höcke. Dafür wurde das Grundstück extra angemietet und der Nachbar als „gefährliche Person“ gründlich überwacht – eine Aktion, die eine Kündigungsklage und eine zerstörte Kamera nach sich zog.

Dezember: #MeToo-Bewegung wird Person of the Year

Fernab der politischen Debatten fand dieses Jahr vor allem dieses Thema Platz in den Schlagzeilen: sexuelle Belästigung. Nach den Vorwürfen gegen Hollywood-Filmproduzent Harvey Weinstein fanden Frauen und Männer mithilfe des Hashtags #MeToo ein Sprachrohr für ihre traumatischen Erlebnisse. Ein gesellschaftlicher Wandel wurde vorangetrieben, der nun schon über mehrere Monate stark diskutiert wird. Im Dezember wurde die MeToo-Bewegung deswegen vom US-amerikanischen Time Magazine zur „Person of the Year“ ernannt.

Einen passenden Abschluss für das Jahr bildet somit auch dieser Tweet:


Die dbate-Redaktion wünscht einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Veröffentlicht am: 20.12.2017 in Artikel

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Artikel Sexismus auch im Bundestag: Diese Frauen haben es erlebt

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Dass Sexismus auch in der Politik eine Rolle spielt, führt dieses Video eindringlich vor Augen. Frauen des Deutschen Bundestags erzählen darin von Situationen, in denen sie sich mit Sexismus, Vorurteilen und sogar sexueller Belästigung konfrontiert sahen. 

„Sie sind doch eine Frau…“

Nach der großen Debatte, um sexuelle Belästigung in Hollywood und dem viralen Hashtag #MeToo, wirft dieses Video nun einen Blick darauf, wie es im Deutschen Bundestag zu sich geht. Als weiblicher Abgeordneter ist man dort nicht nur in der Unterzahl, sondern wird auch mit vielen sexistischen Vorurteilen und sexueller Belästigung konfrontiert. Das zeigt das Video Eine Frage der Ungleichheit – produziert vom WDR und der bildundtonfabrik.

„Als Frau im Bundestag – spielt Ihr Geschlecht eine Rolle?“ werden unter anderem Ulla Schmidt (SPD), Katja Kipping (Die Linke) und Beatrix von Storch (AfD) gefragt. Margit Stumpp von den Grünen zum Beispiel berichtet von Aussagen ihrer männlichen Kollegen, dass sie „den schönsten Arsch im Gremium“ habe. Und auch bei der Aufgabenverteilung kommt es scheinbar oft zu sexistischen Sprüchen, die schon mit „Sie sind doch eine Frau…“ anfangen. Die Erzählungen der Abgeordneten sind dabei ebenso schockierend wie aufschlussreich.

Veröffentlicht am: 30.11.2017 in Artikel

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Artikel Die besten Karikaturen zum Bundestagswahlkampf 2017

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Der Bundestagswahlkampf 2017 geht in die heiße Phase. Auch die Karikaturisten haben sich natürlich ihre Gedanken und Meinungen zum Wahlkampf gemacht. dbate zeigt die besten Bundestagswahl-Karikaturen der Künstler Thomas Plaßmann, Jürgen Tomicek und Heiko Sakurai.

Thomas Plaßmann scheint die Problematik der Unentschlossenheit gut zu verstehen. Schließlich kann man sich bis Sonntagabend Zeit lassen und sich Gedanken über sein Kreuzchen machen. Wer bekommt Erst-, wer bekommt Zeitstimme? Diese Problematik greift Plaßmann in seiner Karikatur „Die Stunde der Taktiker“ auf:

Ironisch greift er außerdem die „heiße Phase“ des Wahlkampfes auf. Total spannend oder etwa nicht?

Bundeskanzlerin Angela Merkel kandidiert für schon für ihre vierte Amtszeit. Seit 2005 hat sie das Amt der Bundeskanzlerin inne. Das greift Karikaturist Jürgen Tomicek mit dieser Karikatur auf:

Tomicek sieht die „Große Koalition“ nicht in Gefahr. SPD-Kanzlerkandidat hat sich dafür extra hübsch gemacht…

Von Wind keine Spur? Dieses Jahr gab es jede Menge Kritik, dass der Wahlkampf zu langweilig sei.

Der Künstler Heiko Sakurai fasst die Problematik der Koalitionsbildung wie folgt zusammen:

Während Merkel und Schulz sich mit Samthandschuhen anfassen, geht es bei den kleineren Parteien richtig zur Sache. Um Platz drei wird erbittert gekämpft:

Plant Martin Schulz schon für die Zeit nach der (verlorenen) Wahl? Und wer bekommt welchen Posten? Karikaturist Sakurais Blick in die Glaskugel:

Veröffentlicht am: 22.09.2017 in Artikel

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Artikel #Thermilindner: Der lustigste Hashtag zur Bundestagswahl

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#Thermilindner! Das Internet hat mal wieder zugeschlagen. Nach einer Pose in dem ARD-Talk Anne Will (siehe weiter unten) werden gerade lustige Twitter-Memes auf den FDP-Chef Christian Lindner, der selbst einer der aktivisten Politiker in den sozialen Medien ist, im Netz verbreitet. Mit #Thermilindner werden gerade verschiedene lustige Tweets zu Lindner und dem Küchengerät Thermomix kombiniert und verbreitet. Der Großteil ist tatsächlich sehr amüsant. Und selbst der FDP-Politiker kann offenbar darüber schmunzeln…

Und um diese Pose geht es. Christian Lindner mit zwei erhobenen Zeigefingern:

Was ist wichtiger? Thermomix oder Tinder?

Ein Wort.

Wahlversprechen mal anders…

So einfach ist das also mit dem Thermomix:

Jede noch so kleine Pose wird in ein Meme umgewandelt:

Und auch Bundeskanzlerin Merkel spielt natürlich eine Rolle – und ist Lindner in diesem Fall einen Schritt voraus:

Besonders kreativ zeigt sich dieser Twitter-User:

Dieses Foto wurde besonders oft verbreitet und neu interpretiert:

Auch der Abgang von Wolfgang Bosbach, der bei Twitter für viele Lacher sorgte, wird hier mit #Thermilindner kombiniert:

Photoshop lässt grüßen:

Leckere Rezeptideen:

Auch solche GIFs hat die Online-Community erstellt:

 

Und was sagt Lindner selbst? Der gibt sich gelassen:

Veröffentlicht am: 25.08.2017 in Artikel

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Artikel Helmut Kohl – im Halbdunkel

Artikel Helmut Kohl – im Halbdunkel

Im Jahr 2003 stellte sich Helmut Kohl einem ungewöhnlichen Gespräch. Es dauerte vier Tage. Und wurde Kohls letztes großes TV-Interview

von Stephan Lamby

Der Weg ins Herz des Altkanzlers führte über seinen Magen. Der Abend war geplant als Abklopfen, als Versuch herauszufinden, ob er uns vertrauen kann. Uns, den Journalisten, die für den NDR einen Film über sein Leben  drehen wollten. Ausgerechnet für den NDR, mit dem Kohl immer wieder im Streit lag. Michael Rutz, meinen Co-Autor, kannte er bereits. Rutz war Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung Rheinischer Merkur – aus Sicht von Kohl kein Nachteil. Aber mich kannte Kohl nicht. Also wollte er mir auf den Zahn fühlen. Wir hatten einen Tisch bei seinem Lieblingsitaliener in Berlin-Grunewald reserviert. Kohl brachte seine Entourage mit, auch Juliane Weber, seine Büroleiterin. Bevor die Befragung richtig losging, wurden große Mengen Vorspeisen und Spaghetti verzehrt.

Altkanzler Helmut Kohl bei seinem letzten großen TV-Interview, 2003
Helmut Kohl bei seinem letzten großen TV-Interview, 2003

So verging viel Zeit, bis die Prüfung begann. Ich wusste um meine weichen Stellen – Wehrdienstverweigerung, Demonstrationen gegen Atomkraft, vier Jahre ZEIT TV, dem Fernsehmagazin von Kohls verhasster ZEIT. Jetzt keine falsche Antwort. Wo ich denn aufgewachsen sei? Die Frage, das fand ich später heraus, war für Kohl von großer Bedeutung. Die regionale Herkunft half ihm, einen Menschen einzuordnen. Also: „In Bad Godesberg“. Kohl freute sich. Bad Godesberg ist Rheinland, Ludwigshafen-Oggersheim ist Rheinland. Wer aus dem Rheinland kommt, kann kein ganz schlechter Mensch sein. Nächste Frage, die nach der Schule: „Jesuitisches Jungen-Gymnasium“. Helmut Kohl widmete sich zufrieden der Nachspeise und verzichtete auf die heiklen Fragen. Er wollte vertrauen. So war Helmut Kohl eben auch. Ein Interview und Drehreisen wurden vereinbart, ohne Anwalt, ohne Vertrag. Ein Handschlag reichte.

dbate zeigt das Interview von 2003 in sechs einstündigen Folgen. Hier geht´s zu den Videos

Das Interview zog sich dann über vier Tage – zwei Tage im Frühjahr, zwei Tage im Herbst. Das Wohnzimmer seines Hauses in Oggersheim hatten wir wegen der Scheinwerfer etwas verdunkelt, stets stand genug Essen auf dem Tisch. Vier Tage Jugend im Krieg, Aufstieg in der CDU, Kanzlerschaft, Machtkämpfe, Mauerfall, Europa. Vier Tage Adenauer-Brandt-Schmidt-Honecker-Thatcher-Mitterand-Clinton-Bush-Gorbatschow. Und dann, natürlich, die Spendenaffäre. Jetzt  stellten Michael Rutz und ich die Fragen, auch die unangenehmen.

„Was ich gesagt habe, genügt völlig“

Und Kohl schwitzte, sein Fuß wippte nervös. „Die Spender? Das waren vier, fünf Leute. Ich habe denen versprochen, dass ich das für mich behalte“ „Vier oder fünf?“ Kohl wurde ungehalten. Fühlte er sich beim Schwindeln ertappt, gab es diese Spender gar nicht? Jetzt keine falsche Antwort. „Was ich gesagt habe, genügt völlig.“ Helmut Kohl hatte sich vorgenommen, sein größtes Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.

Helmut Kohl spricht über den Tod seiner Ehefrau Hannelore

Als die Sprache auf seine Ehefrau Hannelore kam, die sich zwei Jahre zuvor im Stockwerk über uns das Leben genommen hatte, brach Helmut Kohl die Stimme, Tränen traten in seine Augen. Hannelore Kohl hatte ich 1998 einmal im Bonner Kanzlerbungalow kennengelernt – eine selbstbewusste, stolze Frau. Wir gingen, vom Kamerateam gefilmt, an einem heißen Sommertag im Garten spazieren. Die Sonne machte ihr nichts aus. Wie muss sich ihr Seelenleben seitdem verändert haben, wie muss sie gelitten haben unter der Spendenaffäre, unter dem Ansehensverlust, vielleicht auch unter dem, was sie über ihren Mann erfuhr und was nur Eheleute wirklich etwas angeht. Auch Hannelore Kohl hatte sich entschlossen, ihre Geheimnisse mit ins Grab zu nehmen. Jetzt also saß der Witwer Helmut Kohl ziemlich einsam in seinem großen Haus, abgedunkelt wie in den letzten Lebenswochen seiner Ehefrau, die wegen ihrer Lichtallergie Sonnenstrahlen nicht mehr ertrug. Helmut Kohl fühlte sich an die düstere Zeit erinnert. Lange Pausen. Dann versuchte er, das Gespräch wieder auf die  Höhepunkte seines Lebens zu führen, sprach über den Mantel der Geschichte, das Haus Europa, über  Männerfreundschaften mit anderen großen Staatsmännern. Doch richtig hell wurde die Stimmung nicht mehr. Am Ende, als wir alle Fragen gestellt hatten, bedankten wir uns, schalteten das Kameralicht aus und zogen die Jalousien wieder hoch. Die Herbstsonne schien durch die Fenster. Als wäre nichts gewesen.

Dieser Text wird in wenigen Tagen auch im Helmut-Kohl-Sonderheft des SPIEGEL erscheinen.

Helmut Kohl – das Interview. Folge 1: Aufstieg und Kämpfe in der CDU

Veröffentlicht am: 19.06.2017 in Artikel

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Artikel "Übertreiben ist unsere Aufgabe" – Charlie Hebdo Deutschland-Chefin im Interview

Artikel "Übertreiben ist unsere Aufgabe" – Charlie Hebdo Deutschland-Chefin im Interview

Marine Le Pen oder Emmanuel Macron: Wer regiert künftig Frankreich? Diese Frage stellt sich auch das Satiremagazin Charlie Hebdo. Mit witzigen und teilweise grenzwertigen Karikaturen wurde und wird der Wahlkampf begleitet. Doch es geht um mehr: Charlie Hebdo will nicht nur an der politischen Debatte teilnehmen, sondern hat sich im Wahlkampf auch klar positioniert. Warum, erklärt Minka Schneider, Chefredakteurin der deutschen Charlie Hebdo-Ausgabe, im Interview mit Hendrik Holdmann.

Welche Rolle spielen Karikaturen im französischen Wahlkampf?

Minka Schneider: Karikaturen spielen durchaus eine große Rolle. Das liegt natürlich auch daran, dass Frankreich im Vergleich zu Deutschland schon seit der französischen Revolution eine sehr ausgeprägte Kultur der Pressezeichnung hat. Außerdem hat der Beruf als Pressezeichner hier einen ganz anderen Status. Viele Tageszeitungen haben Karikaturen als festen Bestandteil in ihrem Blatt. Karikaturen sind eine gute Form, Aktualität zu verarbeiten. In diesem Wahlkampf gilt das besonders, weil einfach so viele abstruse Dinge geschehen sind, die sich für Karikaturen besonders gut eignen.

Welche Themen oder Ereignisse dominieren in den „Charlie Hebdo“-Karikaturen?

Minka Schneider: Die aktuelle Titelseite mit dem Titel „Gewählt!“ zeigt beispielsweise Marine Le Pen, die eine Faust in Form eines Wahlzettels ins Gesicht bekommt. Damit machen wir einerseits auf das Problem der Nichtwähler aufmerksam. Wir sehen wählen zu gehen nicht als Recht, sondern auch als Pflicht. Der einzige Weg, um Le Pen ins Gesicht zu schlagen, ist eben der Wahlzettel. Andererseits steht das „Gewählt!“ aber auch für die Haltung der Redaktion. Wir zeigen damit, auf welcher Seite wir stehen.

Außerdem hat natürlich die Affäre um die Scheinbeschäftigung von Fillions Frau viel Beachtung gefunden. Charlie Hebdo hat dazu eine Ausschneide-Maske als Titelblatt gehabt. Die Maske wurde sehr gut angenommen. Viele Leute haben die Maske ausgeschnitten, sich diese vor das Gesicht gehängt und dann getwittert. Und wir hatten Fillion selbst auf dem Titelblatt – dargestellt als Filzlaus, die nicht loslassen kann. Fillion wollte ja trotz des Skandals nicht zurückziehen.

Wenn man vom Ursprung des Wortes Karikatur ausgeht, was aus dem Lateinischen stammt und so viel heißt, wie „etwas überbeladen“, dann heißt das ja, dass man Sachen, die so existieren ins Extreme pusht und damit übertreibt. Im französischen Wahlkampf waren die Ereignisse an sich schon so überzogen, dass man da gar nicht mehr so viel draufpacken musste. Nehmen wir beispielsweise die Sache, dass Marine Le Pen ein Verfahren hatte, weil sie EU-Gelder veruntreut hat und selbst aber diejenige ist, die sagt, wir müssen aus der EU ausscheiden und ich bin gegen das System. Dieser Wahlkampf war für alle Beobachter, Experten und Beteiligten mitunter sehr absurd und es gab wirklich perverse Vorgänge. Die in Texten zu analysieren, ist die Aufgabe von Journalisten. Diese auf die Spitze zu treiben, ist das, was Zeichner machen.

Wie bereitet Charlie Hebdo das Duell Macron vs. Le Pen auf?

Minka Schneider: Ein großer Faktor, der jetzt eine Rolle spielt, sind die Nichtwähler. Viele Nichtwähler sagen, dass keiner der beiden ihr Kandidat ist. Das gilt auch für uns bei Charlie Hebdo. Als traditionell linke Zeitung sind wir nicht glücklich mit dem wirtschaftsliberalen Kandidaten Macron, von dem zu erwarten ist, dass er „Schrödersche Reformen“ anstoßen wird. Und Le Pen ist traditionell natürlich eines der wichtigsten Feindbilder von Charlie Hebdo. Das Problem in Frankreich ist, dass sich viele Franzosen jetzt sagen: „Dann gehe ich gar nicht wählen“.

Dazu mussten wir uns überlegen, was unsere Position ist. Verhält man sich auch neutral und gibt keine Wahlempfehlung oder gibt man eine? Es liegt aber nahezu in der DNA der Zeitung, sich gegen Rassismus, Protektionismus und so weiter zu stellen. Deswegen haben wir dann doch in langen Diskussionen entschieden, dass wir dazu auffordern, gegen Le Pen zu stimmen.

Welche Darstellungen sind besonders beliebt?

Minka Schneider: Le Pen wird als große Gefahr, die sie ja auch ist, präsentiert. Häufig wird sie mit Stacheldraht dargestellt. Außerdem dominiert bei Le Pen häufig das „Völkische“ – also die Tatsache, dass sie immer auf das Volk Bezug nimmt. Und das, obwohl sie ja eigentlich eine gesellschaftliche Spaltung forciert: hier das System und da die kleinen Leute. Das sehen wir bei Charlie Hebdo besonders kritisch, weil es für uns immer um die Bürger geht – um jeden Bürger. Es gibt nicht dieses „Volk“ als Masse, das irgendwie vom System dominiert wird. Auch ihre Nähe zu anderen Despoten wird bei uns thematisiert. Zum Beispiel, Le Pen, die großer Fan von Trump und Putin zu sein scheint.

Bei Macron fällt auf, dass er als junger Sunnyboy ohne Programm dargestellt wird. Weder rechts noch links: Wofür steht der eigentlich? Außerdem wird er – auch in Anlehnung an den deutschen Martin Schulz-Hype – als Jesus oder Erretter, der angeblich alles kann, abgebildet. Oft wird auch die Beziehung zu seiner um 24 Jahre älteren Frau aufgegriffen. Das ist für Karikaturisten natürlich eine gute Geschichte. Wir haben ihn auch als Schutz vor Le Pen dargestellt: Er als Kondom, das uns noch vor Le Pen schützen kann. Dazu stand die Frage: „Wird das Kondom platzen?“

Die Schwierigkeit besteht für uns darin, dass man beide gut karikieren kann. Beide repräsentieren Dinge, hinter denen Charlie Hebdo nicht steht. Trotzdem wollen wir deutlich machen, dass die Anti-Front-National-Haltung dominierend ist. Die wirkliche Gefahr ist Le Pen.

Wie wichtig sind Karikaturen für den politischen Diskurs?

Minka Schneider: Im Gegensatz zu einem Text, kann eine Karikatur schneller und stärker auf den Punkt bringen, wie grotesk, pervers oder bizarr ein aktuelles Geschehen ist. Oft wird uns vorgeworfen, dass Dinge „so schockierend“ seien. Aber der Sinn von unseren Karikaturen besteht ja darin, den Betrachter darauf hinzuweisen, wie pervers die Situation eigentlich ist. Nicht die Karikatur an sich ist das Schockierende, sondern das, was dahinter steht. Die Überzeichnung von Positionen kann den Betrachter viel direkter zu einer intellektuellen Auseinandersetzung aufrufen als ein Text. Und  ja, natürlich ist der Wunsch, an der politischen Debatte teilzunehmen, die Triebfeder der Karikaturisten. Es geht immer darum, Stellung zu beziehen und am politischen Diskurs teilzunehmen.

Gilt also der Satz „Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte“?

Minka Schneider: Ja. Manchmal ist die Botschaft einer Zeichnung stark, aber eben auch simpel. Die Kunst besteht darin, eine Karikatur so subtil zu gestalten, dass ein Denkprozess angeregt wird. Andererseits muss die Botschaft so klar sein, dass das Bild trotzdem die bezweckte Wirkung erzielt.

Infos zu Charlie Hebdo Deutschland:

Seit Dezember 2016 wird eine deutschsprachige Ausgabe der französischen Satirezeitschrift in Deutschland verkauft. Minka Schneider arbeitet gemeinsam mit der französischen Redaktion von Paris aus und hat mittlerweile einen Stamm an Übersetzern, Layoutern und Zeichnern, die verteilt in Detuschland leben. In der deutschsprachigen Ausgabe werden außerdem auch Texte und Bilder verstorbener Kollegen gezeigt. Mehr Infos zur deutschen Ausgabe von Charlie Hebdo gibt´s auf der Homepage oder bei Facebook.

Veröffentlicht am: 03.05.2017 in Artikel

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