Artikel ESC - gute Idee, schlechte Musik

Artikel ESC - gute Idee, schlechte Musik

Ein Kommentar von Stephan Lamby

Allein der Klang: „douze points“. Das klingt weich und verheißungsvoll. Nicht so hart und gebraucht wie „zwölf Punkte“. Diese „douze points“ also, der Kontakt mit einer fremden Sprache, einer anderen Kultur, macht die Veranstaltung zu einer Grenzüberschreitung. Und lässt aus dem politisch so neurotischen Europa für einen Abend die Luft raus. Die Harmlosigkeit des ESC ist der nette Gegenentwurf zum Griechenlandkrise-Türkeibashing-Krimkrieg-Brexit-Europa. Ein Abend lang Frieden in europäischen Wohnzimmern. Prima Sache.

Wäre da nicht die Musik, um die es ja eigentlich geht. Wer, wie ich, dem ESC seit Jahren immer wieder eine Chance gibt, in der Hoffnung auf einen ungewohnten Sound, ein überraschendes Lied, der muss feststellen: Die allermeisten Auftritte sind Schrott. Aber halt! Das darf man so nicht so sagen. Es sind ja alles junge Künstler, die Respekt verdienen. Also gut, kein Schrott. Sagen wir es vornehmer, verschwurbelter: Die musikalische Vision des Euro-Vision Song Contest ist provinziell. Mittelmaß. Bestenfalls.

Stampfende Osteuropäer, die mit viel Pyro und Trockeneis so etwas wie Stimmung vortäuschen. Blasse Mädchen, die von alternden Musikproduzenten in ein melodische Korsett gezwungen werden. Ein halbes Dutzend Sänger, die genauso klingen wollen wie der Vorjahressieger. Schema F, Jahr für Jahr. Eine Sauce, nach den stets gleichen Rezepten zusammengerührt von Plattenfirmen und TV-Managern. Eine aufwendige Inszenierung europäischer Ödnis.

Wo steht eigentlich geschrieben, dass beim ESC nicht auch Punkmusiker auftreten dürfen? Warum dürfen keine Jazzmusiker improvisieren? Wieso bekommt man keinen Hip-Hop zu hören, keinen Chanson, kein House, keine schreiende Gitarren- oder Saxophon-Soli? Weil es um diese verdammten „douze points geht, ums Gewinnen – und eben nicht um Musik. Gewinnen ist keine Kategorie in der Musik. So bleibt Jahr für Jahr als Pop getarnte Sicherheitsmusik übrig, ein paneuropäischer Brei. Nach Verzehr schnell verdaut – und vergessen.

Und: Seit wann ist eigentlich Humor verboten beim ESC? Wer hat den Wettbewerb zur Ironie-freien Zone begradigt? Guildo Horns „Guildo hat Euch lieb“ und Stephan Raabs „wadde hadde dudde da“ ragen heraus aus der Geschichte des ESC. Weil sie sich selbst nicht ernst nahmen. Ein Spiel, also Pop, nicht mehr. Solche Betriebsunfälle haben die nationalen Jurys längst aus dem Wettbewerb verdammt. Die bärtige Diva Conchita Wurst hat sich noch einmal über alle Ironieverbote hinweg gesetzt – und so die steife Mittelmäßigkeit aller anderen Sänger aufgezeigt. „Eurovision“ – ein großer, ein toller Anspruch. Aber welche Vision Europas vermittelt der ESC? Ein swingendes, cooles Europa sicher nicht. Daher: Hoffentlich erhält Jamie-Lee keine „douze points“. Von niemandem, nicht einmal von unseren Nachbarn Schweiz und Österreich. Stefan Raab – komm´ zurück! Rette Europa!

Veröffentlicht am: 10.05.2016 in Artikel

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